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Demokratie [griechisch dēmokratía »Herrschaft des Volkes«] die, -/...ˈti|en, die Staatsform, die in der klassischen Staatsformenlehre besonders der Antike als Alternative zur Monarchie und zur Aristokratie gesehen wurde, heute jedoch v. a. als Gegensatz zur Diktatur begriffen wird. Im Unterschied zum Demokratiebegriff der griechischen Antike, der zum »Demos« (Volk) nur eine Minderheit der Einwohner (ohne z. B. Frauen und Sklaven) zählte, sind in der neuzeitlichen Demokratie alle erwachsenen Staatsbürger teilhabeberechtigt. »Herrschaft des Volkes« heißt nun: direkt oder repräsentativ aus dem Volk hervorgehende Herrschaft in seinem eigenen Interesse (beziehungsweise dem seiner Mehrheit). Das ist die – um die Repräsentativverfassung erweiterte – Kurzformel, die A. Lincoln, 1861–65 Präsident der USA, prägte: »government of the people, by the people and for the people – »Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk«.

Die Elemente der Demokratie sind vielfältig. Zu ihnen gehören nach dem – v. a. im westeuropäischen und nordamerikanischen Staatsverständnis verankerten – Konzept der verfassungsstaatlichen Demokratie die folgenden Bauprinzipien: In der Demokratie ist das Volk Inhaber der Staatsgewalt (Volkssouveränität). Die Regierung wird nach dem Prinzip der freien, geheimen, allgemeinen und periodisch wiederkehrenden Wahl – direkt oder indirekt – vom Volk für eine bestimmte Zeitdauer gewählt (Volkswahl). Die gewählte Regierung wird bei der Ausübung der ihr anvertrauten Macht durch das Volk oder durch von ihm befugte Organe kontrolliert. Das Staatshandeln muss Verfassung und Gesetz respektieren. Von ihm wird zudem verlangt, dass es unter Berufung auf das Interesse des Volkes erfolgt beziehungsweise unter Berufung auf das Interesse der Mehrheit, bei Achtung von Minderheitsrechten. Der Staat hat ferner die Grundrechte des Bürgers zu gewährleisten, zu achten und zu schützen (Bürger- und Menschenrechte). Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Gerichte gehören ebenso zur verfassungsstaatlichen Demokratie wie eine wirksame Opposition als Alternative zur Regierung, Meinungs- und Organisationsvielfalt (Pluralismus) und vom Staat unabhängige Organe der öffentlichen Meinung. wissenmedia, Gütersloh

Zwischen den einzelnen Elementen der Demokratie herrscht oft ein Spannungsverhältnis. Einerseits gehört zur Demokratie das Mehrheitsprinzip, andererseits sucht sie durch Grundrechte, Minderheitenschutz, Gewaltenteilung, Rechts- und Sozialstaatlichkeit den Wirkungskreis und die Folgen von Mehrheitsentscheidungen einzuhegen. Zahlreiche Verfassungen suchen dies zusätzlich zu erreichen durch Machtaufteilung und -verschränkung (Föderalismus), Differenzierung der Volkssouveränität (Mehrkammersystem) und durch Einrichtung einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit.

Die Demokratie kann verschiedene Formen annehmen. Eine Form ist die direkte Demokratie, bei der das Volk (z. B. in Gestalt einer Volksversammlung oder durch Volksabstimmungen über die Verfassung, über Verfassungsänderungen, einfache Gesetze oder sonstige Streitfragen) die Staatsgewalt unmittelbar (das heißt direkt) ausüben kann.

Im Gegensatz zur direkten Demokratie wird die Herrschaft in der repräsentativen Demokratie mittelbar (das heißt indirekt) über vom Volk gewählte »Abgeordnete« und von den Abgeordneten gewählte Regierungen ausgeübt. Die Abgeordneten sind »Repräsentanten« des Volkes und sollen für dieses in eigener Verantwortung zeitlich befristet handeln, wobei ihr Auftrag sich in regelmäßig stattfindenden Wahlen bewähren muss und erneuert werden kann.

Zu den wichtigsten Grundformen der repräsentativen Demokratie zählen die »Präsidialdemokratie« und die »parlamentarische Demokratie«. In der Präsidialdemokratie besteht in der Regel eine strenge Gewaltenteilung besonders zwischen Exekutive (Regierungsgewalt) und Legislative (Gesetzgebungsgewalt). Die Funktionen des Staatsoberhauptes und des Regierungschefs sind im Amt des Präsidenten vereinigt. Der Präsident wird vom Volk gewählt und besitzt so neben dem Parlament eine eigene Legitimation durch den Souverän. Im Gegensatz zur Präsidialdemokratie ist in der parlamentarischen Demokratie die Regierung bei ihrer Amtsführung vom Vertrauen des Parlaments abhängig (Abberufbarkeit der Regierung). Das Amt des Staatsoberhauptes ist von dem des Regierungschefs getrennt. Dieser v. a. wird vom Parlament gewählt und stützt sich bei seiner Regierungstätigkeit auf die Mehrheit des Parlaments, das ihm bei der »Vertrauensfrage« das Vertrauen aussprechen oder entziehen kann. Ein Abgeordneter kann – im Gegensatz zum Präsidentialismus – zugleich Amtsträger (z. B. Minister, Ministerpräsident) sein.

Auch die Reichweite des Mehrheitsprinzips unterscheidet die Demokratien. Großbritannien z. B. ist der Inbegriff einer »Mehrheitsdemokratie«. In ihr ist das Mehrheitsprinzip das allerwichtigste Konfliktregelungsprinzip; nennenswerte institutionelle Sicherungen und Gegenkräfte gegen die Mehrheitsherrschaft fehlen ihr. Von der Mehrheitsdemokratie ist die »Verhandlungsdemokratie« zu unterscheiden, die mitunter auch als »Konkordanz-«, »Konsensus-« oder »Proporzdemokratie« bezeichnet wird. Machtaufteilung, zahlreiche Vetopositionen und mannigfache wirksame Begrenzer der Mehrheitsherrschaft kennzeichnen die Verhandlungsdemokratie (z. B. Föderalismus, ausgebaute Selbstverwaltung, Verfassungsgerichtsbarkeit und autonome Zentralbanken). Somit wird in der Verhandlungsdemokratie die Mehrheitsregel von Konfliktregelungen ergänzt, die auf gütliches Einvernehmen aller oder der meisten Beteiligten zielen oder zumindest hohe Zustimmungsschwellen vorsehen (z. B. Zweidrittelmehrheit).

Viele Verfassungen demokratischer Staaten sind eine Mischung verschiedener Demokratieformen. So stellen die Bundesverfassung der Schweiz von 1874 und die Verfassungen ihrer Kantone eine Verbindung direkter und indirekter Demokratie dar. In der Verfassung des Deutschen Reiches von 1919 (Weimarer Reichsverfassung) ergänzten plebiszitäre und präsidentielle Elemente das repräsentative und parlamentarisch-demokratische Grundmuster. Die Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich durch eine Mischung aus Mehrheits- und Verhandlungsdemokratie aus, die v. a. aus dem Zusammenspiel von Parteienwettbewerb und Föderalismus erwächst. Politische Parteien spielen in allen Formen der repräsentativen Demokratie eine wesentliche Rolle (»parteienstaatliche Demokratie«).

Neben das Verständnis von Demokratie als einer Staatsverfassung treten heutzutage Demokratielehren, die nach möglichst breiter politischer Beteiligung möglichst vieler Staatsbürger in allen wichtigen Belangen des Gemeinwesens streben. Demokratie wird hier nicht allein als Erscheinungsform des Staates, sondern zugleich als Ausdruck des gesamten gesellschaftlichen Lebens gesehen. An die Stelle von »Repräsentation« tritt hier die Idee der allseitigen direkten Beteiligung jedes Bürgers, des ungehinderten »herrschaftsfreien« Diskurses und der Identität von Regierenden und Regierten.

Auf der Basis einer für alle Bürger verbindlichen Weltanschauung und Definition des Staatszwecks sowie unter Berufung auf die Einheitlichkeit des Volkswillens betrachteten sich auch Diktaturen – besonders im 20. Jahrhundert – als Demokratien und traten im Gewande pseudodemokratischer Verfassungsmodelle auf. Das Rätesystem sowjetischer Prägung war in Wirklichkeit ein – von der kommunistischen Staatspartei gelenktes – diktatorisches Regierungssystem, und das Blockparteiensystem der mitteleuropäischen sozialistischen Länder verdeckte nur notdürftig die Diktatur der jeweiligen Staatspartei in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft.

Unter den demokratietheoretischen Ansätzen gibt es zwei Grundmuster: die normativen und die empirisch-analytischen Theorien. Erstere erörtern Werte und Normen und bewerten Ist- und Sollzustände der Demokratie, Letztere beschreiben und erklären, wie Demokratie real funktioniert, welche Voraussetzungen sie hat, welche Formen sie annimmt und welche Ergebnisse sie zustande bringt. Innerhalb dieser Grundmuster gibt es verschiedene Richtungen. Der liberalen Demokratieauffassung z. B. geht es um die Konstituierung und Begrenzung politischer Herrschaft (meist im Rahmen des Repräsentativsystems) sowie um die (dem Volk) verantwortliche Regierung. Die pluralistische Demokratietheorie geht von der Auffassung aus, dass sich die gesellschaftlichen Interessen und Meinungen in der Demokratie widerspiegeln sollen. In einem Prozess des Mit- und Gegeneinander, durch ein System von Kräften und Gegenkräften (»checks and balances«) vollziehe sich der Willensbildungsprozess auf einer mittleren Linie. Die elitäre Demokratietheorie spricht die Erfahrung aus, dass auch unter den Voraussetzungen demokratischer Mehrheitsherrschaft die politischen Entscheidungen von Eliten gefällt werden. Die partizipatorische Demokratietheorie stellt der Realität des gesellschaftlichen Geschehens strenge normative Forderungen entgegen. Die Anhänger dieser Theorie kommen zu zwei sehr unterschiedlichen Folgerungen: zur Forderung nach allseitiger Teilnahme am gesamtgesellschaftlichen Willensbildungsprozess und – so v. a. zum Anarchismus neigende Denker – zur Forderung nach Maximierung allgemeiner Herrschaftsfreiheit. Von hier aus bestehen fließende Übergänge zu heilsgeschichtlichen Deutungen der Demokratie, die die Demokratie erst mit der Schaffung eines sozial geeinten Volkes als Basis der Volksherrschaft auf dem rechten Weg sehen. In dieser Lehre ist die Demokratie lediglich ein Bestandteil einer umfassenden Gesellschaftstheorie mit eschatologischer Blickrichtung. Zu den Prinzipien der verfassungsstaatlichen Demokratien hingegen gehört die Überzeugung, dass Demokratie stets erneuerungsbedürftige politische Übereinstimmung ist, gerade wegen der fortbestehenden weltanschaulichen und sozialen Verschiedenheit. Diese Sichtweise kennt nicht die verbindliche Vorgabe des Staatszwecks – der Zweck des Gemeinwesens muss immer neu definiert werden.

Bereits die Belebung basisdemokratischer Ideen seit den 1970er-Jahren verdeutlichte, dass das Mitwirkungs- und Selbstverwirklichungsbedürfnis in den modernen Demokratien trotz verschiedener neuer Elemente (Bürgerinitiativen usw.) meist keine ausreichenden Möglichkeiten findet. Zudem wird häufig bemängelt, dass das Problemlösungsvermögen einer Demokratie in charakteristischer Weise beschränkt ist: Zum einen kollidieren längerfristige Ziele mit den vergleichsweise kurzen Wahlperioden. Auch ist nicht immer eine einsichtige und als verbindlich empfundene Vorstellung des Gemeinwohls als Basis politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse auszumachen. Zum anderen folgt die Stimmabgabe der Abstimmungsberechtigten oftmals nicht rationalen Kriterien. Ferner sind mitunter die Abstimmungsprozeduren selbst nicht unumstritten. Schon geringe Änderungen der Abstimmungsprozedur können große Wirkungen entfalten, insbesondere über Sieg oder Niederlage entscheiden. Probleme ergeben sich für die moderne Demokratie außerdem durch die Macht und den Einfluss von demokratisch nicht oder kaum legitimierten Organisationen, z. B. Verbände, die schlagkräftige Sonderinteressen vertreten. Auch ist der demokratisch entscheidbare Spielraum mitunter verengt, z. B. durch hohe Abhängigkeit von weltwirtschaftlichen Prozessen (Globalisierung) und durch Abgabe von Kompetenzen an transnationale Organisationen wie die Europäische Union, die allerdings ein beträchtliches Demokratiedefizit aufweist. Zu den potenziellen Herausforderungen für die Demokratie sind ferner verschiedene Spielarten des Extremismus zu zählen, insbesondere ihre Formierung zu Anti-System-Parteien, die zum Problem für den Bestand der Demokratie werden, wenn ihre Anhängerschaft über Randgruppen hinausreicht, d. h., wenn der demokratische Grundkonsens schwindet.

Antike und Mittelalter: Die Demokratie galt v. a. in Antike und Mittelalter, aber auch in der beginnenden Neuzeit als eine instabile Regierungsform. Staatsdenker wie Platon, Aristoteles, Cicero oder Seneca der Jüngere standen der Demokratie kritisch gegenüber. Aristoteles (»Politica«) und Cicero (»De re publica«) befürworteten Staatsverfassungen aus aristokratischen und demokratischen Elementen. Für etwa zwei Jahrtausende kreiste die Verfassungslehre um den Gedanken, dass eine »gemischte Verfassung«, die einige demokratische Bestandteile enthielte, die beste sei.

Frühere Neuzeit: In der Neuzeit bekannten sich zunächst nur wenige Staatsdenker wie der britische Schriftsteller W. Godwin dazu, dass die »Turbulenz und Fluktuation« in der Demokratie besser sei als die Immobilität der anderen Staatsformen. J.-J. Rousseau, der bedeutende Theoretiker der Volkssouveränität, trat in seinem Werk »Du contrat social« (1762) für eine weitgehende Identität von Regierenden und Regierten als einzig wahre Form der Demokratie ein; zwischengeschaltete Instanzen, die im Auftrag des Volkes die Regierung kontrollieren, beeinträchtigten die Volkssouveränität. In seinem »Contrat social« und seiner Schrift »Le projet pour la Corse« (1765) ließ Rousseau jedoch erkennen, dass er die Verwirklichung der reinen Demokratie in seiner Zeit noch nicht für möglich hielt.

Moderne Demokratie: Mit der Verfassung von 1787 erhielten die USA, mit der Verfassung von 1791 Frankreich (in der ersten Phase der »Großen Revolution«; Französische Geschichte) eine demokratische Ordnung nach dem Repräsentativmuster. In der Zeit der Französischen Revolution (1789–99) tauchten die Begriffe »Demokratie« und »Demokraten« immer häufiger im positiven Wortgebrauch auf. Sie erhielten einen sozialen Unterton. Anhänger der Französischen Revolution nannten sich »Demokraten« oder wurden von ihren politischen Gegnern so genannt. Von den Jakobinern wurde der Begriff Demokratie auf die Republik übertragen. Mit ihrer Herrschaftsform entwickelten diese aus dem Gedanken der Demokratie autoritäre Herrschaftsformen, indem sie den Gedanken der reinen Demokratie gewaltsam mit der Forderung nach Homogenität der Nation und einheitlichem Staatszweck verbanden. In seiner Rede über die Republik vom 5. 2. 1794 charakterisierte M. de Robespierre die Merkmale der demokratischen Republik: Moral statt (aristokratisch-ständischem) Egoismus, Freiheit statt Sklaverei, Gleichheit statt ständischer Privilegien. F. N. Babeufs Geheimbund »Verschwörung der Gleichen« (1796) verwarf die herrschenden Strömungen der Revolution als »undemokratisch« und hielt ihnen das Bild einer egalitären (das heißt auf umfassende Gleichwertigkeit der Bürger zielenden) Demokratie entgegen. Der Versuch der Revolution, in Frankreich die Demokratie zu realisieren, war für die Entwicklung der Demokratie in Europa ideengeschichtlich bedeutsam. Das Scheitern des meist als radikaldemokratisch aufgefassten republikanischen Experiments in Frankreich führte zunächst – in der Zeit Napoleons I. (1799/1804–1814/15) und der »Restauration« (1815–30) – zu einer sehr skeptischen Beurteilung der Demokratie. Mit der Wahlrechtsreform von 1832 (Reform Bill) entwickelte Großbritannien jedoch das Repräsentativsystem, das sich seit dem Mittelalter schrittweise herausgebildet hatte, im demokratischen Sinne weiter. In den angelsächsischen Staaten sowie mit Unterbrechungen in Frankreich setzten sich die demokratischen Tendenzen im Rahmen repräsentativer Verfassungen fort, während z. B. in Preußen und Österreich bis zur Schwelle des 20. Jahrhunderts ständische Auffassungen wirksam blieben. Kritische Betrachter der Entwicklung demokratischer Verfassungsstrukturen fassten die Demokratie nicht mehr allein als Staatsform auf, sondern als Ausdruck eines tief greifenden sozialen Prozesses, der alle Bereiche der Gesellschaft verändere, so A. de Tocqueville in seiner Schrift »De la démocratie en Amérique« (1835–40, 2 Bände).

Demokratisierungsschübe im 20. Jahrhundert: Erst nach dem Ersten Weltkrieg (1914–18) setzte sich das demokratische Element auf breiter Front im Rahmen repräsentativ-parlamentarischer Systeme durch. Versuche, auf dem Wege einer »Räteherrschaft« eine Form direkter Demokratie zu schaffen, scheiterten (Ungarn sowie Bayern, 1919) oder mündeten schnell in diktatorische Regierungssysteme (Sowjetrussland beziehungsweise Sowjetunion, 1917/18–22). Unter dem Eindruck sozialer und politischer Konflikte sahen sich jedoch bald demokratische Systeme von diktatorischen und totalitären Systemen verdrängt (besonders in Deutschland 1933, Italien 1922 und Spanien 1936/39, aber auch in Portugal, Ungarn, Polen und mehreren Balkanstaaten). Nach 1945 entstanden neben parlamentarisch-demokratischen Regierungssystemen (z. B. in Italien, Österreich, der Bundesrepublik Deutschland und Japan) im Verlauf der »Sowjetisierung« von Teilen Mittel- und Osteuropas (z. B. DDR, Polen, Tschechoslowakei) kommunistische Einparteiensysteme im Gewande »volksdemokratischer« Verfassungsmodelle. Im Zuge der Entkolonialisierung entließen v. a. Großbritannien und Frankreich die meisten ihrer Kolonien bis zu Beginn der 60er-Jahre als Demokratien in die Unabhängigkeit. Doch nur wenige dieser Staaten wurden fest verankerte (»etablierte«) Demokratien (z. B. Indien). Viele verharrten im Zustand einer »fragilen« oder einer »defekten« Demokratie oder formten sich zu autoritären Staatsgebilden um.

Im Gefolge einer weltweiten Protestbewegung setzte in den 60er-Jahren v. a. in den parlamentarischen Demokratien Europas und Nordamerikas eine Welle radikaldemokratischer Bestrebungen ein, die besonders die Demokratisierung der gesellschaftlichen Bereiche unterhalb der staatlichen Ebene forderten. Besonders die Studentenbewegung der 60er-Jahre und der ihr zugrunde liegende Wertewandel begünstigten den Aufstieg der »neuen sozialen Bewegungen« in den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts und ihre Hinwendung zu basisdemokratischen Ideen.

Zu einer neuerlichen Demokratisierungswelle mit mehr oder weniger tief gehender Öffnung diktatorischer Herrschaftssysteme kam es im Anschluss an längere Transformationsprozesse seit Mitte der 70er-Jahre zunächst v. a. in Lateinamerika, später auch in Asien sowie Afrika. In Ost- und Mitteleuropa entwuchsen den nach 1975 (KSZE-Schlussakte von Helsinki) verstärkt entstehenden und zunächst gesellschaftlich marginalisierten Bürgerbewegungen im Spätsommer und Herbst 1989 massenhafte Demokratiebewegungen, die maßgeblich den politischen Umbruch 1989–92 herbeiführten. Der Transformationsprozess löste zahlreiche wirtschaftliche und soziale Probleme aus.

Mit dem weitgehenden Zusammenbruch der Gesellschaftsordnungen des sowjetischen Typs hat F. Fukuyama die These vertreten, dass es zur liberalen Demokratie keine historischen Alternativen mehr gebe. Doch mit dem Verschwinden des Feindbildes »Kommunismus« treten, wie es scheint, die Schwächen des Verfassungstyps »westliche Demokratie« umso schärfer hervor. Genannt werden v. a. die folgenden Problemlagen:

   Marktkonformes Verhalten, durch solidarische Werte nicht mehr hinreichend korrigiert, könnte der liberalen Demokratie ihre wichtigste Ressource entziehen: die Bereitschaft der Bürger, sich für sie zu engagieren.
   Eine konjunkturunabhängige, auf Dauer gestellte Massenarbeitslosigkeit droht massenhaft anomische Bewusstseinslagen zu produzieren, die sich in Gewalt- und Ideologiebereitschaft sowie in der Sehnsucht nach einfachen Lösungen und »starken Männern« äußern könnten.
   Technologische Entscheidungen mit irreversiblen Konsequenzen wären geeignet, das Herzstück der Demokratie, das Mehrheitsprinzip, dann außer Kraft zu setzen, wenn die zur Mehrheit gewordene frühere Minderheit einmal getroffene Beschlüsse nicht mehr revidieren kann.
   Individualisierungstendenzen mit einer Dynamik ohne historisches Vorbild schicken sich an, den für die Demokratie unverzichtbaren Minimalkonsens zu zerstören.
   Zweifel an der ökonomischen Leistungsfähigkeit Europas könnten die Frage provozieren, ob die technokratischen Strukturen des vereinten Europas mit nachlassender wirtschaftlicher Prosperität nicht eine entscheidende Sinnquelle der westlichen Demokratie verlieren.
   Zwar bietet der Trend zur Globalisierung der Märkte die Chance zu einer Gemeinschaft des Nutzens im globalen Maßstab. Doch ihr steht möglicherweise die Gefahr gegenüber, dass die Demokratie in dem Maße ausgehöhlt wird, wie weltweit agierende »Global Players« die wirklich relevanten gesamtgesellschaftlichen Fragen entscheiden, die der demokratischen Entscheidung der Bürger entzogen sind.
   Spätestens seit dem 11. 9. 2001 ist die liberale Demokratie des Westens mit der Gefahr des weltweiten, gegen sie gerichteten islamistischen Terrorismus konfrontiert, ohne dass eine wirklich überzeugende Gegenstrategie erkennbar wäre, die demokratischen Grundsätzen entsprechen würde.
   Viele Bürgerinnen und Bürger sprechen davon, sich nicht mehr von der Politik vertreten zu fühlen. Dies führt im schlechtesten Fall zu einer Abwendung von gesellschaftlicher Solidarität und politischem Engagement und bereitet den Raum für autoritäre und neurechte Strömungen bzw. deren Akteure. Die Demokratie läuft Gefahr, in Teilen der Bevölkerung nicht mehr als schützenswertes Gut angesehen und verteidigt zu werden.

Die zukünftige Entwicklung der liberalen Demokratie wird folglich davon abhängen, ob es gelingt, dem Denken in Kategorien der individuellen Nutzenmaximierung neue Formen der Bürgersolidarität gegenüberzustellen. Sie kann dabei auf keine andere Quelle zurückgreifen als auf die aufgeklärten Eigeninteressen der Bürger selbst. Erst in der zivilgesellschaftlichenAssoziation können die Einzelnen (wieder) lernen, freiwillig solidarische Bindungen einzugehen. Allerdings ist der pluralistische Parteienstaat der Problemlage des 21. Jahrhunderts nur unter der Voraussetzung gewachsen, dass er sich in zweierlei Hinsicht reformiert. Auf der einen Seite muss er durch ein fundamentaldemokratisches Korrektiv wirkungsvoll ergänzt werden. Von einer solchen Konstellation könnten das Parlament, die Parteien und die Abgeordneten nur gewinnen, weil sie in einer im Umbruch befindlichen Welt auf einen sensiblen Seismografen an der Basis angewiesen sind. Auf der anderen Seite wird der pluralistische Parteienstaat der westlichen Demokratien des 21. Jahrhunderts um die Erarbeitung der über den Status quo hinausweisenden Vision einer Welt, die wir für erstrebenswert halten, nicht herumkommen, denn die Institutionen des westlichen Verfassungstyps werden zu leeren Hülsen, wenn sie sich auf die Funktion der Elitenrekrutierung und der staatlichen Ordnung beschränken. Das Politische verschwindet dann aus der Politik: Sie droht zu einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung von Scheinlösungen zu verkommen, statt auf die vor uns liegenden Strukturprobleme wirkliche Antworten zu finden.

Die westliche Demokratie hat den Herausforderungen linker und rechter Diktaturen im 20. Jahrhundert standgehalten. Ob sie die Probleme zu lösen vermag, für die sie selber mit verantwortlich ist, muss die Zukunft zeigen. Weiterführende Literatur:

H. Kelsen: Vom Wesen u. Wert der Demokratie (21929; Nachdruck 1981);

A. de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika (aus dem Französischen, 1956; Nachdruck 2004);

J. L. Talmon: Die Geschichte der totalitären Demokratie, 2 Bde. (aus dem Englischen, 1961–63);

C. J. Friedrich: Demokratie als Herrschafts- u. Lebensform (21966);

R. Dahrendorf: Gesellschaft u. Demokratie in Deutschland (51977);

K. L. Shell: Liberal-demokratische Systeme (1981);

An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, hg. v. B. Guggenberger u. C. Offe (1984);

M. Weber: Gesammelte politische Schriften, hg. v. J. Winckelmann (51988);

P. Kielmansegg: Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität (21994);

Referendums around the world, hg. v. D. Butler u. S. Ranney (Washington, District of Columbia, 1994);

The encyclopedia of democracy, hg. v. S. M. Lipset, 4 Bde. (London 1995);

Aristoteles: Politik, übersetzt u. hg. v. O. Gigon (71996);

G. Sartori: Demokratietheorie (aus dem Englischen, Neuausgabe 1997);

Zwischen Triumph u. Krise. Zum Zustand der liberalen Demokratie nach dem Zusammenbruch der Diktaturen in Osteuropa, hg. v. R. Saage u. G. Berg (1998);

R. A. Dahl: On democracy (Neuausgabe ebenda u. a. 2000);

A. Fisahn: Demokratie u. Öffentlichkeitsbeteiligung (2002);

G. Lehmbruch: Verhandlungsdemokratie (2003);

H. Vorländer: Demokratie (2004);

J. A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus u. Demokratie (aus dem Englischen,8 2005);

A. Hamilton u. a.: Die Federalist Papers (aus dem Englischen, Neuausgabe 2007);

Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien (52010);

E. Fraenkel: Deutschland u. die westlichen Demokratien (Neuausgabe 2011);

A. Lijphart: Patterns of democracy (New Haven, Connecticut, 22012);

Demokratie in Deutschland u. Europa. Geschichte, Herausforderungen, Perspektiven , hg. v. E. Jesse u. R. Sturm (2015).

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